Martin Binder

Kratzen - ein Denkmal als Prozess

2015

Materialien: Edelstahl, Farbbeschichtung in sechs Farben, überzogen mit schwarzer Farbe

Dimensionen: 6 aneinandergefügte Metallstelen, 225 cm x 300 cm x 10 cm

Konzept: Eine schwarze, gekrümmte Wand am Magnus-Hirschfeld-Ufer ist der Ausgangszustand des Denkmals, das sich durch die aktive Beteiligung von BesucherInnen verändern wird. Unter der schwarzen Farbe verbergen sich die Farben des Regensbogens, für jede der sechs Farben ein Metallsteifen, die zusammen die Wand bilden. Am oberen nicht schwarz überlackierten Teil der Wand, offenbart jeder Streifen seine Grundfarbe. Durch Kratzen an der schwarzen Opferschicht mit harten Gegenständen wie z.B. Schlüsseln oder Münzen können die BesucherInnen Ritzspuren hinterlassen und die Farben unter der schwarzen Schicht freikratzen. So wir das für ein Denkmal dieser Art bestehende Vandalismusrisiko konstruktiv gewandelt, Erinnerungsspuren und Kratzbewegungen legen die Regenbogenfarben frei.
Die Kratzaktivität ist eine Referenz zur wiederholten Beschädigung der bestehenden Gedenktafeln am Magnus-Hirschfeld-Ufer. Der Vandalismus umfasst unter anderem die Verformung einer Tafel, das Beschmieren mit Schriftzeichen und Symbolen auf den Vorder- und Rückseiten und das Auskratzen der Augen der auf den Tafeln abgebildeten Persönlichkeiten.
Die Krümmung des Denkmals schafft in der gedachten Fortsetzung eine Verbindung zum ehemaligen Standort des Instituts für Sexualwissenschaft am anderen Ufer der Spree und erinnert an seine bedeutende Rolle.

Diese Form produktiver Interaktion der Destruktion erinnert an die vorsätzliche Zerstörung der Bibliothek des Instituts für Sexualwissenschaft durch Berliner Nationalsozialisten im Mai 1933 (ca. 20.000 Bücher, 35.000 Fotografien und 40.000 Erfahrungsberichte sowie biographische Briefe wurden verbrannt). Weitere Beispiele für homophoben Vandalismus im öffentlichen Raum ist die Beschädigung des Denkmals für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen im Tiergarten, die Beschädigung der Gedenktafel im U-Bahnhof Nollendorfplatz für im Nationalsozialismus verfolgte Homosexuelle und die wiederholte Verbrennung einer Regenbogenskulptur in Warschau, um nur einige zu nennen. Der wiederholte Vandalismus an den Hirschfeld-Gedenktafeln wird zum gestalterischen Element des Denkmals. Die kollektive Kratzaktivität der BesucherInnen bildet eine lebendige Bewegung ab, die Spuren des Zusammenhalts hinterlässt und Solidarität mit der ersten homosexuellen Emanzipationsbewegung über die freigelegten Farben sichtbar macht. Ähnlich wie die Aneignung diskriminierender Begriffe durch die homosexuellen Communities und die daraus resultierende Stigma-Umkehr der Begriffe „schwul“, „homo“, „queer“ oder „gay“ nutzt dieser Denkmalentwurf Aneignung als Strategie zur Umkehr des Vandalismus. Die symbolische Untergrabung der Zerstörung macht aus dem Kratzen eine positive, produktive Tat.

Das zunehmende Hervortreten der unteren Farben steigert die Sichtbarkeit des Denkmals. Durch das Abkratzen der Farbe verändert sich das Denkmal und bietet im öffentlichen Raum einen Ort, der Befreiung und Emanzipation sichtbar werden lässt. Je mehr gekratzt wird, desto vielfarbiger wird das Denkmal und desto deutlicher treten die sechs Farben unter dem Schwarz der Metallwand hervor. Durch diese Handlungsstrategie wird eine aktive Teilnahme gefordert, die für Menschen jeder Körpergröße möglich ist und spontan mit mitgebrachten Gegenständen als Kratzwerkzeug erfolgen kann. Die Höhe des Denkmals verhindert, dass die schwarze Farbe komplett verschwindet und erinnert somit auch daran, dass lange nicht alle Ziele der homosexuellen Emanzipation erreicht sind. Die von PassantInnen hinterlassenen Kratzspuren tragen zu einem lebendigen Gedenkort bei.

Entwurf der Hirschfeld AG, bestehend aus:
Sajana Joshi
Malvina Panagiotidi
Jonathan Ryall
Martin Binder
Raju G.C.
Xue Wang
Igor Sovilj
Ino Varvariti
Giannis Delagrammatikas