Achim Zeman

over all

1998


over all
Förderverein Aktuelle Kunst, Münster 1998

Das Prinzip des Irrgartens, das Paradoxon einer Verwirrung stiftenden Systematik, bestimmt als konstituierendes Element die begehbaren Bilder Achim Zemans: Der Betrachter, der sich angesichts jeder Gabelung vielfachen Entscheidungsmöglichkeiten ausgesetzt sieht, verliert sich in einem Gewirr an Wegen, dessen vermeintlich willkürlicher Anordnung ein mathematisches Konzept zugrunde liegt. Ein mit Blick auf die Raumgröße berechnetes Quadrat bestimmt als Modul, als feste, stets ableitbare Größe durch Teilung oder Verdoppelung seiner selbst die Ausmaße der Wege und ihrer Begrenzungen. Der optische Eindruck täuscht über die mathematische Nachprüfbarkeit des Systems hinweg; die Visualität negiert den Rationalismus der Ordnung.

Achim Zemans Irrgarten 'over all' konstituiert seine Wegführungen aus aufgeflockten Nylonfasern, die sich in den vorgeschriebenen Demarkationen zu einem samtigen Flor verdichten. Der feinhaarige Auftrag, seine bisweilen filzartige Struktur, dämpft die Atmosphäre des Ortes, evoziert einen Grad an klaustrophobischer Stille, die sich in dem engen ehemaligen Schutzraum auch im Moment seiner unmittelbaren Bedrohung dereinst eingestellt haben mag. In der Farbgebung changieren die differenzierten Rottöne im Wechsel von Raumtiefe, Lichteinfall und struktureller Verdichtung der Fasern auf verschiedenfarbigem Grund: Gemahnt das mattschimmernde Rot bisweilen an getrocknetes Blut, so nimmt es andernorts unerwartet einen plüschigen, fast anheimelnd-bergenden Charakter an. Die dualistische Aussagekraft von Farbe und Materie korrespondiert mit dem zwiespältigen Erinnerungswert des Bunkers, der den Schutz des Lebens gewährleistet, in der Rückschau aber gleichermaßen seine Vernichtung symbolisiert.

Die Fragilität des stofflichen Auftrags, der bei leisester Berührung der Wände zerfällt, entmaterialisiert Zemans Farbraum im rezeptiven Prozeß: Die haptische Neugier des Betrachters, seine zwangsläufige Suche nach Halt, wird mit dem Griff ins Leere und der fortschreitenden Destruktion des vielgliedrigen Systems bestraft. Als temporäres Konstrukt ist dem Irrgarten die Verflüchtigung seiner Strukturen, die Zerstäubung der Pigmente und schließlich die Auflösung im Nichts unausweichlich vorbestimmt.

Achim Zemans plan ausgelegtes Vexierbild, das sich in der Begehung die dritte, tiefenräumliche Dimension erschließt, macht Blickrichtung und Schrittfolge zu Partnern der Rezeption, zu geheimen Verbündeten auf der Suche nach Orientierung. Der erlösende Ausgang, der Weg ins Freie, entläßt den Betrachter an einen Ort, der ihm das trügerische Gefühl von Sicherheit und Selbstbestimmung suggeriert. Doch der Irrgarten, in den er nun zurückkehrt, heißt - Welt: jenes Geflecht aus Lebenswegen, die sich parallelisieren, kreuzen und wieder trennen, um in schicksalhaft vorbestimmter Konsequenz einem letzten Ausgang zuzustreben, hinter dem nun aber nicht mehr die tröstliche Gewißheit wartet, das Altvertraute wieder vorzufinden.

Wolfgang J. Türk