Achim Zeman

Fluidum & Sog

2010


Fluidum & Sog
Edition und Galerie Hoffmann, Friedberg, 2010


Vom freien Fluss


In jedem Augenblick sind wir unendlich vielen Einflüssen ausgesetzt, und in jedem Augenblick löst dies Reaktionen in uns aus, deren Komplexität wir nicht nur sprachlich kaum differenzieren können. Nur scheinbar bleiben wir von unserer Umgebung unberührt, tatsächlich sind wir unaufhörlich dabei, Impulse aufzunehmen, zu verarbeiten und weiterzugeben. Wir lassen etwas wirken, öffnen uns, genießen; wir stoßen etwas ab, verschließen uns, leiden. In der Geschichte unseres Denkens hat sich der Begriff der Atmosphäre als Bild für diese qualitative Raumerfahrung etabliert. Die Kunst von Achim Zeman fragt nach deren konkreten Bedingungen. Was prägt die spezifische Atmosphäre eines Raums und worüber vermittelt sie sich? Wie lassen sich Prozesse der Ausstrahlung und Aneignung sichtbar machen?

Für die Installation „Fluidum & Sog“ in der großen Ossenheimer Ausstellungshalle hat Zeman zwei der hohen Wände und ansatzweise Fußboden und Decke mit einem offenen Muster aus blauen geometrisch umrissenen Folienelementen bedeckt. Als sei das Gebäude von einer unsichtbaren Druckwelle erschüttert worden, die einen Raum verformenden Sog ausübt, entsteht auf der einen Wand der Eindruck von drei sich wechselweise kugelförmig wölbenden und hohlförmig vertiefenden Druckzentren. Auf der gegenüberliegenden Wand scheint von diesem Druck nur mehr ein Echoimpuls zu wirken, die Formen weniger beschleunigt, gleichsam feinstofflicher in den Raum wegzudriften. Fast gewaltig, wie stark mikroskopiert, erlebt man auf beiden Seiten die sichtbar werdende Strömung der Teilchen; nahezu winzig und instabil erfährt man im Vergleich dazu die eigene körperliche Ausdehnung.

Anders als die Optical Art der 60er Jahre nutzt Zeman Gesetzmäßigkeiten der optischen Geometrie nicht zur Darstellung isolierter Phänomene, die sich gegen die Umgebung absetzen. Er entwickelt seine Bildlösungen vielmehr gerade in enger Auseinandersetzung mit der Eigenspannung des jeweiligen Ortes – sie forcierend oder konterkarierend, streng formal oder spielerisch, sich annähernd oder Distanz suchend. Bei der Arbeit „Fluidum & Sog“ ist es die verdeckte Spannung einer modern inszenierten Galerie in der Holzarchitektur eines ehemaligen Kornspeichers, die sich gleichsam Bahn bricht. Seismische Quelle scheint die nicht weit entfernte Ossenheimer Getreidemühle zu sein, das heutige Haupthaus der Galerie, umgeben von einem Wasserlauf mit einem alten Wehr. Kieselsteine im Flussbett bilden kleine, das Wasser beschleunigende Sogzentren aus. Mit seiner Installation gelingt es Zeman, nicht nur ein komplexes Bild für die verschiedenen Fließeigenschaften aufzurufen und so die Charakteristik einer alten Industrielandschaft in den Ausstellungskontext zu übertragen, sondern deren Dynamik so der Raumarchitektur einzuzeichnen, dass sie Bestandteil der räumlichen Erschließung wird. Größenverhältnisse und Begrenzungen geraten ins Fließen. Der hohe Abstraktionsgrad der künstlerischen Intervention erlaubt es zudem, selbst entferntere Assoziationsketten von der Mechanik des Pressens, über das Zerstäuben gemahlenen Korns bis zum zähen Fließen von Teig formal zu reflektieren.

Wie viele der frühen Industriesiedlungen wurde auch das Areal um die Ossenheimer Mühle bei Frankfurt am Main vor knapp fünfzehn Jahren nach und nach einer kulturellen Nutzung zugeführt.
Damit einher gehen immer auch Nivellierungen und Verdrängung. So könnte man Zemans Arbeit als Versuch einer (wieder-)belebenden Impulsgebung verstehen – nicht im Sinne einer Rückführung, als historisches Zitat, sondern als ein Freisetzen der Dynamik selbst.

Karin Wendt