Thomas Henninger

Weisser Zirkel

2021

oben
und unten
Himmel und Erde
Eintauchen – Auftauchen
Alles ist Bewegung, Rhythmus, Licht und Atem.
Mit unserem Fahrzeug fahren wir in die Tiefgarage der Stadt Ulm und
folgen der Linienführung einer abwärtsführenden Spirale in die Tiefe.
Empfangen werden wir von hell leuchtenden, übereinandergestapelten
Ringen, die uns sofort in eine andere Welt eintauchen lassen.
Diese Lichtkreise begleiten uns in einer unserer Fahrt entgegenwirkenden
Rotationsbewegung. Sie balancieren in langsam und scheinbar
schwerelos aufeinander. Wir folgen der linearen Inszenierung
von Oben nach Unten und bilden so in Einklang mit der kühlen Eleganz
der Installation die Essenz einer zentrierten spiralförmigen Choreographie.
Ausgehend von den Fragestellungen der künstlerischen Bewegung
des Konstruktivismus und des Suprematismus, die sich um eine Reduktion
auf geometrische Elemente bemühten, ist auch hier formaler
Ausgangspunkt eine der reinsten, ursprünglichsten Formen der
Kunst: der Kreis, magisches Symbol der Vollkommenheit und Ganzheit.
Für die Installation „Weißer Zirkel“ bildet Constantin Brancusis
„Endlose Säule“ in ihrem mathematisch-geometrischen Verfahren
und ihren Reihungen einen wichtigen abstrakten Bezugspunkt. Angereichert
um das Medium Licht und die Bewegung im Raum erinnern
wir uns an die Lichtsäulen von Heinz Mack und an andere Lichtexperimente
der Zero-Künstler. Weisen die Lichtsäulen Macks in der Wüste
gen Himmel – der Sonne entgegen –, bewegen wir uns gedanklich
in die andere Richtung: hier schaffen wir eine in künstliches Licht getauchte
zyklische Welt unter der Erde.
Die Idee, die Mathematik als Urform abstrakten Denkens zu bemühen
und ihr nicht nur die reine Form des Kreises zu entleihen, führt
konsequenterweise auch zur präzisen Anordnung der einzelnen Elemente:
Die Winkel zwischen den einzelnen Kreisen werden durch die
Verhältnisse der Fibonacci-Reihe definiert, die wir auch durch den
Goldenen Schnitt und unsere Anschauung der Wachstumsstrukturen
von Pflanzen kennen: Von oben nach unten vergrößert sich der
Winkel zwischen den Lichtkreisen in diesem Maßverhältnis. So ist
die „Abwicklung“ der Ringe in ein harmonisch und gleichzeitig spannungsreiches
Moment gefasst.
Der klaren mathematischen Idee entgegen steht ein anderer Aspekt
der Installation, die Kunst der Täuschung, ein fast kindliches Spiel: In
der Wahrnehmung des Betrachters tanzen die Ringe tatsächlich aufeinander,
rotieren in ihrer eigenen Kreisbewegung und beziehen sich
so aufeinander. Scheinbar bilden sie eine labile Konstruktion, eine
Jonglage, einen Balanceakt zwischen Sehen und Verstehen.
Beenden wir nun unsere Zeit unter der Erde, steigen in unser Fahrzeug
und möchten auftauchen. Dann beginnt das Spiel von neuem,
allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: In der zweiten Spirale findet
eine rückwärtige Bewegung statt. Nun drehen sich die Lichtringe
in die andere Richtung. Alles strebt wieder nach oben, der Kreis
schließt sich und vollendet unseren Parkhausbesuch. Am Ende sind
wir wieder da, wo alles begann. Den tieferen Sinn lassen wir unter
der Oberfläche zurück, denn dort liegt die Wahrheit, geflüchtet in die
Abstraktion reiner Mathematik, der Schönheit eines reinen, philosophischen
Gedankens.
Alles ist Bewegung.
Eintauchen – Auftauchen
Himmel und Erde
oben und
unten.

Ausschnitt Weisser Zirkel, Ulm 2022

Installationsansicht Weisser Zirkel, Ulm 2022

Detail Weisser Zirkel, Ulm 2022