Thomas Henninger

Lichtung

2022

Der Neubau der Universitätsbibliothek der Philipps-Universität Marburg schmiegt sich harmonisch an den nördlichen Rand des Alten Botanischen Gartens von Marburg. Seine großzügigen Fensterfronten öffnen sich zu diesem hin und bilden großflächige Landschaftspanoramen, erinnernd an Dioramen naturkundlicher Museen. Die künstlerische Arbeit „Lichtung“ nimmt diesen Bezug zwischen Natur und menschlicher Beobachtung derselben auf, die am Anfang jedes wissenschaftlichen Arbeitens steht, und entwickelt sich aus dieser Korrespondenz. Im Innenraum des Neubaus bildet „Lichtung“ eine Struktur aus gold-glänzenden Edelstahl, die sich gleich einer fragmentarischen Landkarte auf der zentralen Wand der Bibliothek ausbreitet. Ablesbar
wird für den Betrachter ein abstraktes, glänzendes Relief-Gebilde, dessen Form einer unvertrauten Logik folgt. Diese steht aber mit der angrenzenden Natur in direkter Beziehung, denn es ist die Natur selbst, genauer: die Sprache der Vögel, die sie hervorgebracht hat.
Das Kunstwerk setzt seinen Ausgangspunkt im Alten Botanischen Garten. Es orientiert sich an dortigen Fakten: Im Frühsommer wird dort temporär ein Netz aus speziellen Aufnahmegeräten (Mini-Funkmikrophone und Oszillographen) installiert, um in der morgendlichen Dämmerung die erwachenden Vogelstimmen aufzuzeichnen. Über die Positionierung dieser Mini-Mikrophone werden die Tonaufnahmen kartographisch verortet – es entsteht eine „Sound Map“, welche ein visuelles, quasi neuronales Netz bildet. Mit der Hilfe von Ornithologen wird eine Analyse der aufgezeichneten
Daten erstellt, aus dieser wird eine akustische Zeichnung gleich einer Partitur erstellt.
Diese Komposition dient schließlich als Ausgangspunkt für die Ausformulierung der Skulptur, welche sich im Innenraum der Bibliothek materialisiert: Über einen Algorithmus wird ein dreidimensionales digitales Relief erstellt und in Form von „Lichtung“ wird es wieder in die physische Welt überführt. Die feine Linienführung der Skulptur ergibt sich durch die Setzung, welche von Vogelart, Tonhöhe und Lautstärke bestimmt wird. Das akustische Signal wird in eine visuelle Sprache übersetzt.
Die flüchtige Form der gesprochenen Sprache – hier die der Vögel – wird in einen festen Aggregatszustand überführt, somit „eingefroren“, und selbst zur Kunst.
Die beschriebene Transformation findet an der Schnittstelle zweier kulturgeschichtlich bedeutender Orte statt: Zwischen dem Botanischen Garten und der Bibliothek. Ersterer ist ein Ort der Bewahrung, in dem Natur als Miniatur geordnet und konserviert wird: ein Refugium für den Menschen, eine Schutzzone, in der er sein und sich seiner selbst gewahr werden kann. „Der Garten ist die kleinste Parzelle der Welt und zugleich ist er die ganze Welt“, schreibt Michel Foucault. In unserer Kulturgeschichte repräsentiert der Garten letztlich die Idee vom Garten Eden, also die gottgegebene, harmonische Beziehung zwischen Mensch und Natur.
Die Bibliothek hingegen konserviert Erkenntnisse, Gedachtes und Aufgeschriebenes aus vielen Jahrhunderten, und ist ein Ort der Sprache. Als Symbol der Bibliothek wird oft die Eule, Weisheitsvogel und Beschützerin der Göttin der Weisheit, Athene, herangezogen. Diese Verbindung zur Welt der Vögel wird in „Lichtung“ aufgegriffen. In der Betrachtung der Welt, in der Einordnung und Deutung der Qualität der Zeit (griechisch: chronos und kairos) war der Vogelflug in vielen Kulturen Gegenstand von genauer und zu interpretierender Beobachtung. In der künstlerischen Formulierung
wird Naturbeobachtung hier als Sinnbild für die Komplexität von Netzwerken und Zusammenhängen begreifbar.
In aktuellen Diskursen wird das Verhältnis zwischen Mensch und Natur auf existenzielle Weise und in höchstem Maße in Frage gestellt, etwa vor dem Hintergrund der Zerstörung natürlicher Lebensräume oder durch die zunehmende Technisierung der Natur, etwa im Bereich der Gentechnik. Auch die Kunst stellt diese Fragen, indem sie einerseits der romantischen Vorstellung dieser verlorenen Beziehung nachtrauert, andererseits sich selbst schöpferisch synthetischer Prozesse von Naturerzeugung bedient, um ein neues Verhältnis zu definieren. So kommt der Kunst zunehmend
die Rolle zu, an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Technologie und Politik zu wirken. Letztlich geht es dabei auch um eine neue Verbindung, die die Dichotomie von Natur und Kultur überwindet.
In der Arbeit „Lichtung“ zeichnet die Kunst gleich einem abstrakten naturkundlichen Diorama ein Bild von Natur. Natur ist hier nicht länger Gegenstand der Abbildung, sondern avanciert selbst zum Material der Kunst und, mehr noch, bildet sich gleichsam selbst ab: Es ist nicht mehr die Hand des Künstlers, welche sich gestaltend der Natur nähert, sondern die Natur selbst, die zum Schöpfer eines Formfindungsprozesses wird.
Der tiefen Sorge um die Zerbrechlichkeit von natürlichen Systemen und ihrer Gefährdung durch den Menschen setzt das Kunstwerk eine alchemistische Transformation entgegen, an deren Ende ein wertiges, golden-leuchtendes und bleibendes Ergebnis steht. Das Gold intendiert ein Versprechen auf die Versöhnung des Menschen mit dem Göttlichen – die Rückkehr in den Garten Eden. Dennoch wirft es Fragen auf: Das goldene Relief interagiert durch seine Spiegelungen mit dem Licht des Raumes und dem subjektiven Blick des Betrachters – seine Materialeigenschaften
werden zum zentralen Ereignis. Durch die vielfältig gebrochenen Oberflächen ist jeder Eindruck temporär, veränderlich und der Beschaffenheit des Materials unterworfen. Die Kraft des festen Grundes, des einen für wahr gehaltenen Wissens, verfliegt in seiner Veränderlichkeit. Der Spiegel wirft das Menschen-Bild in tausend Facetten zurück: Die Verbindung von Mensch und Natur ist heute keine ideal-harmonische mehr, aber sie besteht weiter und wird insbesondere von jungen Menschen als zentrale zu bewahrende Beziehung eingefordert.

Buch
In Anlehnung an die „Historia Naturalis“ von Gaius Plinius mit seinen enzyklopädischen und lexikalischen Aufzeichnungsmethoden soll parallel eine Publikation entstehen, die die Geschichte des Kunstwerks festhält. Dies geschieht in mehreren Kapiteln: Mit dem Buch wird einerseits die Entstehung der künstlerischen Arbeit dokumentiert, darüber hinaus aber auch der aktuelle Diskurs zum Verhältnis von Kunst, Natur und Wissenschaft thematisiert, indem Beiträgen aus den unterschiedlichen Disziplinen auf poetische Art und Weise neue Aspekte und Fragestellungen beleuchten. In Form von Wort und Bild entsteht so ein kulturhistorischer Versuch, einen Beitrag zum
aktuellen Kunstdiskurs zu liefern. Am Ende wird das Buch selbst Teil des Bibliotheksbestands –
und der Kreis schließt sich.

Installationsansicht, Philipps-Universität Marburg Neubau Universitätsbibliothek
Campus Firmanei, Marburg

Aufnahmegeräte Botanischer Garten, Philipps-Universität Marburg Neubau Universitätsbibliothek
Campus Firmanei, Marburg

Aufnahme der Vogelstimmen im Alten Botanischen Garten,
Philipps-Universität Marburg Neubau Universitätsbibliothek
Campus Firmanei, Marburg