[ɡəˈhøːɐ̯]
Die Grundlage für diese 2023 realisierte Arbeit ist der Artikel 103 im Grundgesetz: „Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.“ Als ein sogenanntes grundrechtsgleiches Recht bildet es einen Teil des Fundamentes der Rechtsprechung in Deutschland. Der Artikel beruht auf das römische Prinzip audiator et altera pars, was bedeutet, dass Aussagen der streitenden Parteien nicht bloß gehört, sondern inhaltlich gewürdigt und bei der Urteilsfindung gegebenenfalls mitberücksichtigt werden müssen.
Die zwei Kunststandorte sind Wände: eine Wand im Eingangsbereich und die Giebelwand des ehemaligen Gefängnisses. Aus diesem Grund befasse ich mich mit den Metaphern, die Wände und das Hören zusammenbringen. Wenn man „gegen die Wand redet,“ heißt es, dass man nicht gehört wird. Ironischerweise gibt es eine andere Redensart die lautet: „Die Wände haben Ohren.“ Man versteht darunter, dass wiederum zu viel gehört wird. Die zwei Wände auf dem Gelände des Amtsgerichts dienen verschiedenen Zwecken. Der Eingangsbereich wird von allen frequentiert —von Besuchern, Angeklagten, Verteidigern, Angestellten, usw. —und die Giebelwand wird hauptsächlich von Mitarbeitern des Amtsgerichts gesehen. Die Wand im Eingangsbereich richtet
sich an diejenigen, die vor Gericht erscheinen müssen und die gehört werden sollen, während die Giebelwand für diejenigen vorgesehen ist, die das Gesetz interpretieren und Urteile fällen müssen. Sie spricht jene an, die zuhören müssen. Beide Kunstwerke beruhen auf verschiedenen Aspekten des rechtlichen Gehörs.
Im Eingangsbereich ist eine Tonspur, die das Aussprechen von Artikel 103 darstellt, aus Kupfer zu sehen. Wenn man die Mittellinie der Tonspur genauer betrachtet, wird man bemerken, dass sie aus Schriften aus verschiedenen Sprachen besteht. Diese sind zahlreichen Übersetzungen vom Artikel 103 in die Sprachen der größten Minderheiten in Deutschland, gemäß der jüngsten Statistik aus dem Ausländerzentralregister. Da sich die Verteilung von Personen mit ausländischer Herkunft immer ändern kann, beginnt der erste Satz in türkischer Sprache nicht ganz am Anfang der Tonspur. Das erste Wort wird etwas abgeschnitten, um darauf hinzuweisen, dass die Linie Teil eines längeren Textes ist. Davor könnte es andere Sprachen geben.
An der Giebelwand ist die deutsche Übersetzung von audiatur et altera pars zu sehen: „Gehört werde auch der andere Teil.“ Die Worte sind über vier Zeilen verteilt, sodass die letzten Buchstaben eine schräge Linie von rechts oben nach links unten bilden. Diese Komposition spiegelt das Gefälle des Dachs wider.
Obwohl verschiedene Übersetzungen des römischen Grundsatzes möglich sind, zeichnet sich diese durch ihre Mehrdeutigkeit aus. Die Wörter „Seite“ und „Gegenseite“ deuten nur zwei Seiten an. „Der andere Teil“ hingegen ist vielfältig und nicht polarisierend. Man könnte fragen, wie viele Teile es überhaupt gibt und wie sie gegenseitig erwägt werden sollten? Darüber hinaus passt der Standort der Arbeit zu ihrem Inhalt. Die Giebelwand gehört zum ehemaligen Gefängnis, in dem „der andere Teil“ untergebracht wird. Weil diese Wand vornehmlich von Mitarbeitern des Amtsgerichtes gesehen wird, ist die Botschaft vor allem an sie gerichtet.