KiöR Künstler*innen

Joseph Marr

josephmarr.de/

Installation / Objektkunst, Konzeptkunst, Skulptur

* 22.03.1979


Index

Text

Joseph Marr (geb. 1979) ist ein australischer Künstler mit englischen/maoriischen Wurzeln, der in Berlin, Deutschland, lebt und arbeitet.Seine Kunst arbeitet in einer Reihe von Medien, darunter Malerei, Skulptur, Video und Fotografie. Er ist konzeptionell ausgerichtet und beschäftigt sich im Allgemeinen mit Fragen des Bewusstseins.
Das Innerste, außen
Kann Kunst in Menschen hineinsehen? In unserer Vorstellung ist diese Fähigkeit eher mit der schönen Literatur verbunden, und mit der Psychoanalyse. Dank ungezählter Filme und Bücher weiß jeder, wie so eine Sitzung abzulaufen hat: der Patient liegt auf der Couch und erzählt, der Analytiker sitzt und verhält sich wie ein lebendes, dann und wann Fragen stellendes Tonbandgerät. Aber was wenn die Innenschau einem nicht reicht? Was, wenn ein Blick von Außen wie von Innen gebraucht wird, um etwas zu verstehen? Der in Australien aufgewachsene, in Berlin lebende Künstler Joseph Marr ist ein guter Zuhörer und zugleich ein unbestechlicher Porträtist. Für eine Serie von 2019 begonnenen Porträt- Plastiken hat in seinem Studio mehrstündige Sitzungen abgehalten. Dabei scannte er sein Gegenüber mit einem 3D-Verfahren und zeichnet parallel auf, was er oder sie ihm in langen Gesprächen von sich erzählte. Menschen berichtetem von kathartischen Momenten, die ihrem Leben eine neue Wendung gegeben oder zu bedeutenden Einsichten geführt hatten. Da war ein medizinischer Eingriff, der mit großen Risiken behaftet, aber unumgänglich war, die Nachricht vom schweren Unfall der eigenen Schwester, oder die existentielle Bedrohung durch eine plötzlich auf den eigenen Kopf gerichtete Schusswaffe. Diese Ausnahmezustände wurden erstaunlicherweise nicht als verwirrend, sondern als Momente der Klarheit beschrieben.
Joseph Marrs Porträtserie suggeriert in ihrer Summe etwas Erstaunliches, dass nämlich die existentielle Bedrohung oder die Infragestellung des eigenen Lebens den menschlichen Geist in einem Außen positionieren kann und ihn dabei schwebend und kontemplativ macht. Selbst die Zeit scheint stillzustehen, wie unter den Augen des 3D- Scanners, der die Gesichter der Menschen noch einmal objektiver festhält als ein Fotoapparat. Diese besondere Dialektik von Innen und Außen hat etwas mit einer früheren Arbeit Marrs gemeinsam. Für „Together“, entstanden 2013 als Auftragsarbeit des Berliner Clubs Berghain, hat der Künstler ein ähnliches technisches Verfahren gewählt. Die neun Meter lange, in Vitrinen unter der Bar im ersten Stock intsallierte Skulpturenfolge zeigt nackte Männer, die miteinander Sex haben. Die Vorlagen waren Berghain-Stammgäste, die sich eine Nacht lang für das Kunstwerk arrangieren ließen. Der Scanprozess nahm damals noch eine volle Stunde in Anspruch, so dass sie ihre intimen Haltungen beibehalten lange mussten. Trotzdem wirkt das Ergebnis nicht starr, eher wie eine Momentaufnahme.
Marr skalierte und kombinierte die dreidimensionalen Scans der Körper und goss sie in flüssigem Zucker ab, so dass durchscheinende, bernsteinfarbene Plastiken entstanden, welche wiederum in Vitrinen eingebaut wurden und die nun mit der Architektur der Bar verschmelzen. Sie scheinen sogar zu schwitzen. Wenn man aber
genau hinsieht, erkennt man, dass da noch mehr zu sehen ist als die abgetasteten Körper jener Nacht. Da wächst Rankwerk zwischen den verschlungenen Leibern und der aufmerksame Beobachter erkennt die charakteristischen Blätter des Efeus. Ein menschlicher Arm endet in einem Huf, ein groteskes Gesicht mit großen, wulstigen Brauen wirkt wie eine Maske, die es ja auch ist, eine Satyrmaske nämlich.
Die Formen stammen nicht von echten Menschen, sondern von der Bauplastik an der nördlichen Fassade des Berliner Stadtschlosses. Verantwortlich für dessen Erweiterung und Umgestaltung zu einer barocken Residenz war der Bildhauer Andreas Schlüter, der 1699 zum Schloßbaudirektor aufstieg. Das zum Lustgarten hin ausgerichtete Portal V gestaltete Schlüter dabei besonders aufwendig und bewegt. Vor der Sprengung des Schlosses 1950 wurden kunsthistorisch für bedeutsam erachtete Teile der Fassaden abmontiert. Dreidimensionale Scans wurden Jahrzehnte später in Vorbereitung einer Rekonstruktion des Schlosses vorgenommen, un zwar von derselben Fachfirma, die auch Joseph Marr für „Together“ engagiert hatte.
Marr konnte so ins Repertoire des besten Berliner Barocks greifen. In seinem Berliner Studio entstand aus den Scandaten der Nacht und der Historie eine komplexe, digitale Komposition, die Jahrhunderte überspannt und das ist in mehrfacher Weise passend. Der Bauschmuck an den Rücklagen der Fassaden des Berliner Stadtschlosses nämlich wirke, so liest man in einem Aufsatz des Kunsthistorikers Guido Hinterkeuser, „wie die zu Stein erstarrten Elemente einer ephemeren Festdekoration“. Schlüter habe das Schloß damit „in einen Zustand permanenter Feierlichkeit“ versetzt, „wie sie einer barocken königlichen Residenz angemessen war.“
Permanente Feierlichkeit, mit diesen Worten könnte man auch das Treiben im Komplex Lab.Oratory/Panorama Bar/Berghain umschreiben, das seit etwa zwanzig Jahren als vielleicht bester, sicher aber als bekanntester Club der Welt gelten darf. In dem ehemaligen Fernheizwerk aus dem Jahr 1954 ist es nicht das Ornament, sondern die monumentale Nüchternheit der Architektur, die den Exzess anfeuert. Die Körperideale allerdings sind dreihundert Jahre später noch ziemlich ähnlich. Am Lustgarten-Portal von Schlüters Stadtschloss stemmen vollplastische, halbnackte Männerfiguren den Balkon der zweiten Etage. Mit ihren austrainierten Oberkörpern wirken die Hermenpilaster, als würden sie seit Jahren jeden Tags in Fitnessstudio gehen, ähnlich wie viele der Männer auf dem Main Floor des Berghain heute.
Joseph Marr hat mit „Together“ einen dreidimensionalen, erzählenden Fries geschafften, der in mehrfacher Weise ortspezifisch ist. Einmal, weil er im mythischen Club Berghain entstand und dort permanent ausgestellt ist. Und dann, weil weil zum Zeitpunkt der Entstehung von „Together“ einige Kilometer weiter der Wiederaufbau des Schlosses begann, dessen Spolien jetzt in der Toilettenbar des Berghain zu finden sind. Der Kontrast zwischen dem staatstragenden, von konservativen Kräften befeuerten Wiederaufbau des Schlosses und der explizit-lebensnahen, aus Zucker mit Colageschmack gegossenen Skulpturen könnte größer kaum größer sein. Man muss das alles aber nicht wissen, um Marrs Arbeit zu begreifen. Die antike

Bildsprache von Satyrmasken, Weinranken, Klauen und Widdern erschließt sich auch so, ist sie doch fester Teil der abendländischen Kultur geworden. „Together“ hat aber noch eine andere Ebene. Das Werk besteht aus mit Kunstharz haltbar gemachtem Zuckermasse und enthält damit eine psychoaktive Substanz. Zucker kann, wie Sex, high und auch süchtig machen. Hinzu kommt eine bekannte, lästige Eigenschaft von warm gewordenem Süßkram: er klebt, so wie die Körper in „Together“ aneinander zu kleben scheinen. Für Marr hat diese Anhänglichkeit auch metaphorische Bedeutung. „Together“ zeigt deshalb eine Entwicklung auf. Die Arbeit kann als Erzählung gelesen werden, vom animalischer Sexualität zu sublimeren Formen von Zweisamkeit. In den letzten Szenen der Arbeit gibt es keinen Sex mehr, aber eine tiefe Verbundenheit. „Together“ ist, ähnlich wie Marrs dreidimensionale Porträts, ein Ineinander von Innen und Außen, intimer Erfahrung und objektiver Darstellung. Der Künstler drängt den Betrachter*innen weder seine eigene Kunstfertigkeit auf (die Skulpturen werden von ihm ohne sichtbare eigene, bildhauerische Handschrift abgegossen), noch stellt er die Intimität der Porträtierten für Voyeurismus zur Verfügung. Und längst nicht alles, was ihm in den Gesprächen mit den Porträtierten offenbart wurde, wird öffentlich. „Together“ wiederum ist für einen Ort geschaffen worden, in dem man bekanntlich keine Fotos machen darf. Wer es sehen will, muss herkommen. Joseph Marr hat eine Installation im semi- öffentlichen Raum geschaffen, ein Werk über und für die Gegenwart. Dabei gelingt es ihm, die Flüchtigkeit und Intensität eines mythischen, aber zugleich maximal offenen Ortes einzufangen. Man kann an vor seiner Arbeit über die preußische Antikenrezeption, über Körperbilder und Schlüters Barock nachdenken, man kann „Together“ aber auch einfach als Abstellfläche für einen Drink benutzen, während man sich mit einer Zufallsbekanntschaft unterhält und genau das ist das Tolle daran: von allen permanent im Berghain installierten Kunstwerken ist „Together“ vielleicht das Beiläufigste, es hat keinen Rahmen und kein Podest. Josephs Marrs Arbeiten über die Möglichkeiten menschlichen Verbundenseins im frühen 21. Jahrhundert gelingt so etwas, was die Avantgarden des 20. Jahrhunderts sich so sehnlichst wünschten: die Barriere zwischen Kunst und Leben einzureissen, ohne eins von beidem zu beschädigen.
Boris Pofalla (TEXT AUS KATALOG JOSEPH MARR , DISTANZ Verlag, 2023)

Vita

Joseph Marr (geb. 1979) ist ein australischer Künstler mit englischen/maoriischen Wurzeln, der in Berlin, Deutschland, lebt und arbeitet.

Seine Kunst arbeitet in einer Reihe von Medien, darunter Malerei, Skulptur, Video und Fotografie. Er ist konzeptionell ausgerichtet und beschäftigt sich im Allgemeinen mit Fragen des Bewusstseins.

Ob Zucker, Harz, Ölfarbe oder Plexiglas, das Medium ist für mich eine Metapher. Die Metapher kann sehr persönlich sein oder allgemein akzeptierte Bedeutungen haben. Zucker zum Beispiel ist ein weltweit weit verbreitetes Material, und das ist eine Sache, die mir an der Verwendung als Medium in meiner Arbeit gefallen hat, denn jeder hat eine tägliche Erfahrung damit und es gibt einem das Gefühl, einbezogen zu werden, wenn man bereits ein Verständnis davon hat Material eines Kunstwerks. Ölfarbe wird jedoch hauptsächlich von Künstlern verwendet und ist für mich besser geeignet, um persönliche Ansichten über die Welt auszudrücken.

KUNSTSAMMLUNGEN
Gabriele and Dieter Kortmann, Germany Hans Mayer, Germany
Sammlung Klein, Germany
Sammlung Viehof, Germany
Ingrid & Thomas Jochheim, Germany Dominik Mersch, Australia
ArtBank, Australia
Tobias Bachmüller / Katjes Gmbh, Germany Klaus Benden, Germany
Juergen Hamacher, Germany
Kada Wittfeld Architektur, Germany
Helge Achenbach, Germany
Christoph Kaup, Germany
Private Collections – New York, Germany, Ireland, New Zealand and Australia

GUPPENAUSSTELLUNG
2023 Berlin, August, KIB Art Space
2022 Berlin, September, KIB Art Space
2020 Berlin, September, Studio Berghain Berlin Boros
2020 Madrid, February, Galerie Kreisler
2018 Venice, February, Palazzo Michiel, Global Art Affairs Foundation
2017 The Netherlands, September, Sticky Business @ Städelijk Museum Scheidam
2017 Switzerland, August, St Moritz Art Masters, Galerie Freitag 18:30
2017 Berlin, March, Hyper Hyper @ Michael Reid Gallery
2017 Berlin, January, Wirtschaftsforum der SPD, Galerie Freitag 18:30
2016 Switzerland, August, St Moritz Art Masters 9th Edition, Galerie Freitag 18:30 @ Hotel Bernina 1865
2016 Köln, October, Galerie Freitag 18:30 @Art.Fair
2016 Berlin, September 14th, Berlin Art Week, Enter Art Foundation
2016 Basel, June, Art Basel Pop-Up Exhibition Messeturm, Enter Art Foundation
2016 Berlin, June, Berlin Michael Reid Gallery, Summer Show
2015 Berlin, September, Michael Reid Gallery @ Positions Art Fair
2015 Köln, October, Galerie Freitag 18:30 @Art.Fair
2014 Köln, October, Galerie Freitag 18:30 @Art.Fair
2014 Trebnitz, August, Who is afraid of figurative sculpture? Schloss Trebnitz
2013 Aachen, December, Galerie Freitag 18:30
2013 Belrin, January, Berghain Berlin
2012 Aachen, December 7th, Galerie Freitag 18:30
2012 Melbourne, August, Dominik Mersch Gallery @ Art Fair 2012
2012 Dresden, July, “Ostrale 012” Internationale Ausstellung Gegenwartskunst 2012 Aachen, July, Galerie Freitag 18:30
2011 Dresden, July, “Ostrale 012” Internationale Ausstellung Gegenwartskunst 2011 Eberdingen, March, Sammlung Klein, Australische Kunst
2011 Aachen, February, Galerie Freitag 18:30
2011 Sydney, January, Dominik Mersch Gallery “Plus One”
2010 Recklinghausen, February, Galerie Grazia Blumberg
2009 Sydney, January, Dominik Mersch Gallery
2009 Melbourne, June, Silvershot Gallery
2008 Berlin, October, Hamburger Bahnhof, Christies Auction “Help for Afrika” 2008 Dorsten, April, Dorsten Kunstverein, “Early Bird”
2001-2004 Sydney, Harris Courtin Gallery
2001 Sydney, The Painters Gallery
2000 Sydney, TAP Gallery
2000 Sydney, Michael Carr Art Dealer
1999-2003 Sydney, 1+2 artist studios

EINSELAUSSTELLUNGEN
2023 Berlin, September, KIB Art Space
2018 Berlin, March, Michael Reid Gallery
2015 Berlin, April, Michael Reid Gallery
2011 Aachen, October, Galerie Freitag 18:30
2009 Düsseldorf, February, Ministerium für Städtebau
2008 Sydney, April, Dominik Mersch Gallery “Losing our Way” 2006 Sydney, April, Marlborough Gallery
2005 Sydney, January, RBG, Rushcutters Bay Gallery 2004 Sydney, April, Harris Courtin Gallery
2003 Sydney, October, Harris Courtin Gallery
2002 Sydney, June, Soho Galleries
2001 Sydney, September, Watch House Gallery 2000 Sydney, October, Gladstone Gallery 1999 Sydney, April, La Lupa