Roland Geissel
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Prof.Dr. Matthias Bleyl
Zu den Wandarbeiten von Roland Geissel
Die Ausmalungen ganzer Räume bildet einen umfangreichen Komplex innerhalb des Werks von Roland Geissel. Seit dem Jahr 2000 sind immerhin zehn solche Raumgestaltungen entstanden. Einige befanden sich in relativ klein dimensionierten Räumen privater Gebäude, die meisten dagegen in großzügigeren, teilweise nicht mehr anderweitig genutzten Räumlichkeiten, wie etwa einem alten Gefängnis, einer ehemaligen Fabrikkantine, kommerziellen Galerien oder öffentlichen Kunstvereinen. Die nur vorübergehende Malerei überzog dabei normalerweise in einer rasterbegründeten Bedeckungsstruktur alle Flächen, also Wände, Decke und Boden gleichermaßen, wobei jedoch nur wenige, drei oder vier Farbtöne eingesetzt wurden. Der Künstler nennt diese Arbeiten „Raumzeichnungen“, doch sei hier der methodischen Genauigkeit halber von Raummalereien die Rede. Dies wird legitimiert durch eine seiner eigenen Äußerungen zu diesem Begriff: „Ob es sich hierbei um Environment, Wandzeichnung, Installation, Raummalerei oder Raumzeichnung handelt, sollen andere entscheiden.“ Zwar nennen auch andere Künstler, wie etwa Sol LeWitt oder David Tremlett, ihre Arbeiten „Wall Drawings“, doch handelt es sich dabei streng genommen um Wandmalerei; einmal abgesehen vielleicht von frühen Versuchen ausschließlich mit schwarzen Linien. Allerdings entstehen Geissels Malereien auf der Grundlage von Fotografien, die vom gleichen Standort aufgenommen wurden wie die späteren Fotografien der fertig ausgemalten Räume. Nach diesen fertigt der Künstler zahlreiche Skizzen an, um Form- und Farbzusammenhänge zu klären. Dennoch ist das Resultat letztlich eine den ganzen Raum überziehende Malerei.
Die malerische Bearbeitung von ganzen Räumen, allerdings vorzugsweise der Wände, oft auch Decken, jedoch nie der Böden (es sei denn mit einer eigenen, z.B. musivischen Dekoration) ist eine Kunstgattung mit langer Tradition und wird normalerweise als Wandmalerei bezeichnet. Sieht man einmal ab von der prähistorischen Höhlenmalerei oder den umfangreichen Dekorationen der frühen Hochkulturen bis einschließlich solcher, weitgehend verlorener, der römischen Antike, von deren Reichtum die Funde der Vesuvstädte eine Ahnung vermitteln können, so haben sich im europäischen Bereich etwa aus dem Mittelalter vielfache Beispiele erhalten, sei es als dekorative Wandgestaltung oder auch in Form narrativer Zyklen in sakralen Räumen; profane Beispiele haben weit weniger überdauert, existierten aber auch. Besonders seit der italienischen Renaissance entstanden zahlreiche Dekorationen meist repräsentativer Räume, vorzugsweise in Kirchen und Palästen, die bis heute unser Vorstellungsild von Wandmalerei prägen. Dabei lassen sich im Wesentlichen zwei Varianten unterscheiden. Zum einen finden sich Wände und auch Decken umfassende Dekorationssysteme, die sich den vorgegebenen Raumstrukturen anpassen, also deren Zuschnitt berücksichtigen, zum anderen die illusionistisch vorgehenden Dekorationen (Quadratura), die sich über diese Vorgabe hinwegsetzen und sie sogar - scheinbar - völlig aufheben können. Zwischen dem späten 15. und dem späten 18.Jahrhundert entstanden in verschiedenen Typologien ungezählte, umfassende oder teilweise Raumdekorationen nach diesen Grundsätzen. Man denke nur an die allgemein bekannten Ausmalungen der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo oder der vatikanischen Stanzen von Raphael in Rom, aber auch noch an die Dekorationen Giambattista Tiepolos in der Würzburger Residenz, oder die seiner zahlreichen Kollegen in den Kirchen Süddeutschlands. Selbst im 19. Jahrhundert mit Eugène Delacroix oder Pierre Puvis de Chavannes, den in Rom tätigen Nazarenern, Alfred Rethel oder Hans von Marées, und im frühen 20. Jahrhundert mit Entwürfen von Theo van Doesburg oder Oskar Schlemmer, später noch mit den Fresken der Mexikaner José Clemente Orozco, Diego Rivera oder David Alfaro Siqueiros finden sich noch wichtige Beispiele hochqualitativer Wandmalerei, während sie im weiteren Verlauf seltener wurden. Heutzutage begegnet man Wandmalerei meist eher in Form der Dekorationen von Restaurants mit folkloristischem Anschein, doch gibt es immer noch profilierte Künstler, die hierin wirklich Wichtiges leisten, wie etwa Sol LeWitt oder jüngstens Katharina Grosse. Hier reihen sich Roland Geissels Arbeiten als ernstzunehmender, zeitgenössischer Beitrag ein, zumal sein System sich nicht mit dem Verweis auf herkömmliche Strukturen erläutern läßt.
Die Werkgruppe folgt einer Struktur, die Geissel bereits auf Wandobjekten mit der Bezeichnung Melusine angewendet hatte. Der Oberfläche dieser relativ kleinformatigen, klotzartigen Objekte wurde ein genau bemessenes Rastersystem aus 3 x 3 x 3 Einheiten appliziert (das allerdings auf der Auflagefläche zur Wand hin nicht sichtbar ist), abhängig von den jeweiligen Maßen. Jede Untereinheit ist also genau so proportioniert wie der gesamte Holzquader. Die Bemalung kann sich jedoch über die Rastergrenzen hinwegsetzen und neue Farbeinheiten schaffen. Es geht also keinesfalls um die Betonung des Rasters, wie etwa bei Wandobjekten von Stuart Arends, deren Farbgebung das Raster unterstreicht, sondern um die Betonung von farbigen Neuformationen auf der Basis des Rasters, das gegenüber den Farbformen zurücktritt. Dieses System wurde von Geissel quasi nur umgestülpt und auf die sechs Flächen von Innenräumen angewendet, so daß man den Raum nun etwa so wahrnimmt, als wäre er ein übergroßes, vom Inneren her gesehenes, farbig gefaßtes Gebilde, wobei sich veränderte Bezüge ergeben können: „Die künstlerischen Antworten auf Fragen nach Raum, nach Plastizität und Volumen, nach Außen und Innen, nach Skulptur und Malerei sind bei den verschiedenen Werkgruppen jeweils eigene und andere, auch wenn sie die selben Themen betreffen.“ Das allen Flächen gleichmäßig applizierte Raster bietet auch hier wieder die Grundlage von Farbflächenverbänden, in denen mehrere Rastereinheiten farblich vereinigt werden können. Selbstverständlich folgt das kohärente System der architektonischen Vorgabe nicht, sondern überspielt es. Die Farbfelder orientieren sich nicht an den mehr oder weniger nahen Orthogonalen der Raumöffnungen oder fest installierter Einrichtungsgegenstände (z.B. Lampen oder Öfen). Sie folgen stattdessen ihrer eigenen, durch die Drittelung der Raummaße vorgegebenen Gesetzlichkeit, wobei es auch zu spannungsvollen Reibungen kommen kann, die etwa ein Innenarchitekt oder Dekorateur wohl eher vermieden hätte. So kann etwa die vertikale Begrenzung eines blauen Farbfeldes im oberen Drittel knapp die Vertikale eines leichten Wandvorsprungs über die ganze Raumhöhe oder die Horizontale eines roten Farbfeldes den oberen Türsturz um wenige Zentimeter verfehlen, was jedoch nicht um der Anpassung an eine mögliche Deckungsgleichheit wegen korrigiert würde (s. Intervencje 2005). Es handelt sich also keinesfalls um angepaßtes Raumdekor. Aber auch jede Form von architekturbezogener Quadratura ist Geissel fremd. Bloße Farbfelder können per se keine Raumentgrenzung illusionieren, auch wenn verschieden intensive Farben wie in verschiedenen Ebenen wirksam erscheinen können. Zur tatsächlichen Entgrenzung bedürfte es des Einsatzes von fingierten dreidimensionalen Architekturelementen. Dennoch entstehen bisweilen - gewollt oder nicht - Effekte, die wenn schon nicht einem wirklichen Illusionismus gleichkommen, so doch zumindest die räumlichen Tatsachen verunklären und eine Art Eigenleben entfalten können. So entstehen unerwartete Veränderungen der Raumwahrnehmung. Drei dunkle Streifen, die sich jeweils L-förmig auf verschiedenen Flächen befinden (Stargarder Straße 72, 2005: Rückwand/linke Wand; vordere Wand/Decke; rechte Wand/Boden), verklammern ohne Berührung untereinander alle sechs Flächen. Allerdings werden diese Effekte erst prononciert in den Fotografien der Räume wirksam, die dann als distanzierte Guckkastenbühnen erscheinen. Dazu sagt der Maler: „Bei der Betrachtung der Fotoarbeiten fällt auf, daß innerhalb der Raumzeichnung Räume erscheinen, die so in dem realen Raum nicht existieren und die man nur auf der Fotografie wahrnimmt. Je nach Standort entstehen neue, irreale Räume.“ Zwar tendiert jedes fotografische Abbild notwendigerweise zur Distanzierung und zur Verflachung, doch können Fluchtlinien bei entsprechendem Weitwinkel auch deutlicher hervortreten. Dabei artikulieren sich bestimmte Flächenzusammenhänge anders, als man sie an Ort und Stelle wahrnimmt und empfindet, und beeinflussen dadurch auch die Raumvorstellung. So können z.B. Raumecken deutlicher erscheinen. In der in der Fehrbelliner Straße 52a ausgeführten Raummalerei etwa scheint der ockergelbe Ofen in einem weißen Sekundärraum mit rotem Horizontalstreifen zu stehen. Durch die angrenzenden graugrünen und dunkelroten Flächen werden das obere und untere, weiß gefaßte Raumdrittel zwar grundsätzlich ausgeschieden, aber erst das Foto läßt diesen deutlich in den Hintergrund des Raumes, der im Original weit weniger tief wirkte, tretenden Effekt so erscheinen, daß sie eine Art „Kabine“, geradezu einen Glaskasteneffekt zu bilden scheinen. Sieht man ähnliche Ecklösungen, wie sie etwa bei Breitengraser 2000/01 oder im Kunstverein Schwerte 2002 realisiert wurden, dagegen nicht frontal nach dem Prinzip der Guckkastenbühne, sondern über die Raumdiagonale, so treten Umkehreffekte auf, wie sie ähnlich etwa aus den Lichtprojektionen von James Turrell bekannt sind. Statt, den fluchtenden Wänden folgend, in die Ecke zurückzuweichen, scheinen die Farbflächen bei Schrägsicht gerade gegenteilig in den Raum vorzustoßen und eine Art transparnten Quader im Raum zu bilden. Wirklich illusionistisch ist dies jedoch bei Geissels Malerei nicht. Scheinen Turrells Lichtprojektionen leuchtende Körper im Raum zu erzeugen, die sich sogar analog dem Standort des Betrachters verändern und mehr die eine oder die andere Seite eines solchen Scheingebildes sehen lassen, so stellt sich dieser Effekt in Geissels Räumen nicht wirklich ein. Im Raum stehend, könnte der Betrachter diesen erst in einer gewissen Distanz wirksamen Effekt kaum einlösen, da er sich praktisch immer „mitten drin“ befindet, wo sich ihm zwar auch interessante Konstellationen vor seinen Augen, über seinem Kopf und unter seinen Füßen bieten, die sozusagen kartografische Gesamtschau ihm jedoch nicht möglich ist. Stellen die Melusinen quasi den Globus für das in den Raummalereien verwendete Strukturprinzip dar, so bieten die Fotos praktisch eine Flächenprojektion, ähnlich einer Landkarte, die erst die quasi „unwirklichen“ Erscheinungen der Malerei erkennen lassen. Geissels nur temporäre Malerei erhält auf diese Weise eine weit mehr als nur dokumentarische Dauer, denn die Fotografien sind ein eigener Werkblock, der andere und eigene Aussagen über den Raum gibt als die Melusinen oder die Malerei selbst.