Matheus Rocha Pitta

The Curfew Sirens

2020

Ein zentraler Aspekt in Matheus Rocha Pittas Arbeiten ist die Untersuchung
von Gesten. Als Ausdruck von Körper und Sprache haben diese
weitreichende ethische und politische Bedeutungen. Seit vielen Jahren
pflegt Rocha Pitta ein umfangreiches Archiv mit Zeitungsausschnitten,
das nach dargestellter Gestik und Verlagsort geordnet ist. Die Abbildungen
verwendet er in gegossenen Betonplatten verschiedener Größen
und Formen, auf denen er das Zeitungsmaterial zu mehrschichtigen
Kompositionen anordnet. Mit seinen „versteinerten“ Collagen erzählt
Rocha Pitta Geschichten und Szenarien, die Autoritarismus, Fehlinformation
und Ungerechtigkeit reflektieren.
Für seine Ausstellung The Curfew Sirens in Hamburg hat Rocha Pitta ein
Ensemble von acht neuen Skulpturen namens Sirenen entwickelt. Schon
der Ausstellungstitel ist ein Spiel mit mehreren Bedeutungsebenen, das
sich durch die Arbeiten zieht. Wörtlich übersetzt ist die „curfew siren“
heute eine Alarmsirene, die den Beginn einer Ausgangssperre einläutet.
Das englische „curfew“ entstammt dem Altfranzösischen und setzte sich
aus den Begriffen für „Feuer“ und „bedecken“ zusammen. Ursprünglich
war damit eine schützende Haube bezeichnet, mit der die heimische
Feuerstelle abgedeckt wurde. Erst allmählich veränderte sich die Bedeutung
des Wortes von einer behütenden zu einer autoritären Konnotation.
Mit der sogenannten „curfew bell“ wurde im mittelalterlichen England
zur Nachtruhe geläutet und daran erinnert, die Glut in den Häusern
abzudecken, um Brände zu verhindern. Die titelgebende Sirene selbst
ist neben einem Alarmton zugleich ein Fabelwesen aus der griechischen
Mythologie, das durch seinen betörenden Gesang vorbeifahrende Seefahrer
anlockt und ins Verderben stürzt. Durch die Wortkombination The
Curfew Siren erweitert, Rocha Pitta seine Sirenenbereits im Titel um
Attribute, die zwischen staatlicher Kontrollmacht und schützender Geste
wechseln.
Dies setzt sich auch in den Skulpturen fort. Die Köpfe der Sirenen zeigen
Gesten von verschlossenen Mündern, Ohren und Augen, die eine Vielzahl
von Bezugspunkten eröffnen. Der Künstler spielt beispielsweise auf die
drei weisen Affen aus einem japanischen Sprichwort an, die heute vor allem
als Emoticons in Kurznachrichten bekannt sind. Die sich den Mund,
die Ohren und die Augen verschließenden Affen werden in der westlichen
Welt primär mit der Idee verbunden, etwas Schlechtes nicht wahrhaben
zu wollen. In ihrer ursprünglichen Bedeutung hingegen stehen sie für
Sittlichkeit und Menschlichkeit. Der Titel der Arbeiten und besonders
die bedeckten Ohren verweisen auf Odysseus’ Begegnung mit den Sirenen.
Homers Sage nach trieb ihn die Neugier dazu, ihr betörendes, aber
fatales Versprechen auf Allwissenheit zu hören. Dem Drang anzulegen
und damit seine Besatzung und sich unweigerlich in die Katastrophe zu
führen, konnte er nur widerstehen, indem er sich an den Schiffsmast binden
ließ. Rocha Pittas Sirenen sind in Anlehnung daran um den zentralen
Pfeiler im Ausstellungsraum platziert, wenden sich jedoch von diesem ab
und den Besucher*innen zu. So bleibt unklar, wer sich in dieser Anordnung
wem widersetzt.
Der Künstler stellt die dargestellten Gesten zugleich in Verbindung mit
dem Drang zur beständigen Meinungsäußerung und Berieslung in den
sozialen Medien und einer zunehmenden Überwachungsmentalität. Jede
der Sirenen hält zwei Selfie-Sticks mit steinernen Mobiltelefonen, auf
deren Displays im Widerspruch zu den gezeigten Gesten „Hear Something!“,
„See Something!“ und „Say Something!“ zu lesen ist. So entsteht
ein ambivalenter Kreislauf aus Aktion und Reaktion innerhalb der Arbeiten
und mit dem Publikum, denn es bleibt letztlich offen, wer aufgefordert
wird, zu hören, zu sehen und zu sprechen.
Matheus Rocha Pitta stellt die Fragen, wer das Recht zu sprechen hat und
welche Autorität es einem nehmen kann. Insbesondere vor dem Hintergrund
zunehmender Gewalt im öffentlichen Sprachgebrauch sucht die
Ausstellung nach einem Moment des Innehaltens und des Ausgleichs.
Seine Sirenen sind dabei zutiefst menschliche Stellvertreter, die zwischen
Widerstand und Resignation gefangen scheinen.
Tobias Peper

The Curfew Sirens
Installationsansicht im Kunstverein in Hamburg, 2020

Die erste Sirene
(Beyoncé als Nefertiti)
2019-2020
Beton, Papier, Ketten
Chinesische Tinte und Selfie-Sticks
240 x 48 x 48 cm

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